Tradition und Fortschritt in Orient und Okzident: Die Decke, europäisch, ca. 1965, gehört zu den Erstanschaffungen meiner Eltern als christkatholische Eheleute. Ihre Gestaltung folgt den Idealen der geometrischen Abstraktion, die von bedeutenden Apologeten der Moderne insbesondere für Gegenstände des täglichen Gebrauchs gefordert wurde, um den sentimentalen Entgleisungen, wie sie jede Form des gefälligen Dekors zwangsläufig zufolge hat, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Davon wußten meine Eltern allerdings nichts. Den Kelim habe ich neulich in Kairo gekauft. Laut Aussage des Händlers wurde er vor ungefähr 15 Jahren von einem Exiliraner aus ägyptischer Wolle unter Verwendung persischer Muster in Ägypten gewoben. Bei dem Iraner handelte es sich um einen sozialistischer Agnostiker, der nach dem Sturz des Schahs vor der islamischen Revolution ins vergleichsweise liberale Ägypten geflohen war, wo er berechtigte Hoffnung hatte, mit seinem traditionellen Handwerkswissen weiterhin ein Auskommen zu finden. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, weil ich auf die Schnelle keine bessere Erklärung für seine Emigration gefunden habe. Jetzt liegen beide Stoffe zusammen auf unserem Sofa. Daß meine Eltern und der Iraner sich begegnen werden, ist hingegen nahezu ausgeschlossen.