„Fußgänger zur gegenüberliegenden Gehbahn U-Bahntunnel benutzen,“ stand auf dem Schild vor der Baustelle auf der Karl-Marx-Allee, Berlin/Friedrichshain, zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor. Neugierig und gespannt schaute ich auf die andere Straßenseite, die größtenteils von Bäumen verstellt ist, und suchte nach einer speziellen Strecke für sportliche Betätigung. Vermutlich, dachte ich, war hier in der Gegend zuzeiten das Leistungszentrum für die Geher der DDR gewesen, und der Staat hatte bei der Schaffung optimaler Trainingsbedingungen für seine Sportler weder Kosten noch Mühen, nicht einmal städtebauliche Maßnahmen gescheut. Schließlich mußten die Athleten ja bei den olympischen Spielen in Moskau oder Seoul auch zwanzig oder fünfzig Kilometer über Metropolenasphalt zur Goldmedaille zurücklegen, da wollten die hochspezialisierten Füße drauf vorbereitet sein und die sensible Sportlerseele auch. Und die Sportförderung der DDR galt doch als einzigartig. Schließlich stand die Über- bzw. Unterlegenheit ganzer Weltordnungen auf dem Spiel. Warum also keine Gehbahn mitten in der Stadt? – Ich konnte bloß beim besten Willen nichts derartiges entdecken: Auf den Bürgersteig folgte die öffentliche Grünanlage mit den Linden, dann der Radweg, die Fahrbahn stadteinwärts, eine Rasenfläche, die Fahrbahn aus der Stadt heraus, dann wieder Radweg und Bürgersteig.
Das Schild hatte seine beste Zeit eindeutig hinter sich. Die dünne, auf ein Holzbrett geklebte Plastikschicht war rissig, und die mit Hilfe von Schablonen aufgespritzte Schrift franste an den Rändern aus.
„Bestimmt ein DDR-Schild“, dachte ich, „es ist ja nicht alles, was in der DDR hergestellt wurde, umgehend entsorgt worden.“
Jetzt gab es eben keine Gehbahn mehr, nur noch dieses sonderbare Wort, das irgendwie verunglückt klang, gegen seinen Willen zusammengeklebt, wie das Holz mit dem Plastik, auf dem es geschrieben stand. Ich blätterte in meinem inneren Lexikon nach anderen Kombinationen von Geh-: Gehbehinderung fiel mir ein, Gehgips, Gehhilfe, überprüfte anschließend die Kombinationen von -bahn: Autobahn, Eisenbahn, Rennbahn, Rodelbahn, Tartanbahn, und fand so zumindest eine Erklärung für das seltsam verfehlte Erscheinungsbild des Wortes: Fast alle Kombinationen von Geh- stehen in Zusammenhang mit Schäden oder Schwierigkeiten bei der Fortbewegung zu Fuß, wem Geh- vorangestellt ist, der kommt nur äußerst langsam weiter. Die angehängte ‑bahn hingegen beschleunigt ihre Vor-Wörter. Auf Bahnen werden alle Fortbewegungsweisen ganz gleich ob zu Fuß, zu Pferd oder mittels fahrbarer Untersätze zur Höchstgeschwindigkeit getrieben, oft unter Wettkampfbedingungen. Insofern paßte die Gehbahn perfekt zu der absurden Sportart des Gehens, bei der sich austrainierte Menschen so schnell wie möglich langsamer bewegen, als sie eigentlich könnten.
Das inzwischen zur Kultfigur aufgestiegene Ost-Ampelmännchen wurde wieder grün und marschierte forschen Schritts zum gegenüberliegenden Bürgersteig, als aus den Tiefen meines Unterbewußten Reste von Abiturwissen auftauchten. Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Bevor der Sozialismus allerdings so richtig unaufhaltsam geworden war, hatte sich die Geschichte durch eine Reihe von Klassenkämpfen schlagen müssen: Die Urgesellschaft mutierte zur Sklavenhaltergesellschaft, daraus wurde die Feudalgesellschaft, aus der die kapitalistische Gesellschaft hervorging, in der die Bourgeoisie, also das Bürgertum, die herrschende Klasse war und den Arbeiter ausbeutete. Der letzte Klassenkampf endete bekanntlich mit der Revolution des Proletariats, das Besitzbürgertum wurde ab- und die Bürgergesellschaft aufgelöst. In einem Land, in dem es keine Bürger mehr gab, brauchte man natürlich auch keine Bürgersteige, wer hätte die benutzen sollen? Für Arbeiter und Bauern, die mit stolzgeschwellter Brust ob des soeben errungenen Sieges über den Klassenfeind zum Einkaufen gingen, wäre es eine Zumutung gewesen, dafür auf Bürgersteige zurückgreifen zu müssen. Das Wort -steig roch ja sogar noch nach Feudalgesellschaft.
Vermutlich werden die Berufsrevolutionäre in den Komitees irgendwann Anfang der Fünfziger Jahre zunächst über das Wort Gehweg als Ersatz nachgedacht haben, aber angesichts des enormen Tempos, mit dem Sozialismus und Fortschritt davonliefen, muß ihnen der Gehweg als zu langsam erschienen sein. Dafür brauchte es eine Hochgeschwindigkeitsstrecke. Arbeiter- und Bauernbahn hörte sich allerdings sehr umständlich an. Außerdem blieb darauf kein Platz mehr für die Berufsrevolutionäre selbst. Genossenbahn klang gut: Schulter an Schulter zügig voran. – Ich weiß nicht, warum es sich nicht durchgesetzt hat. – Vielleicht fand das Gremium nach längerem hin und her, daß eine reine ‑bahn doch einen unangenehmen Unterton von Ausbeutung hatte. Schließlich war der mörderische Konkurrenzkampf des Kapitalismus gerade erst abgeschafft worden. Die Mitglieder der Sozialistischen Gesellschaft sollten nach vollendetem Tagewerk froh und aller Sorgen ledig durch ihre Stadt schlendern können. Dazu war die Gehbahn genau der richtige Weg: In ihr verband sich die Kraftanstrengung der Arbeit mit dem verdienten Genuß ihrer Früchte, gingen Eile und Weile Hand in Hand, sie war sogar behindertengerecht.
Als der grüne Mann mit dem Hut zum inzwischen sechsten oder siebten Mal losrannte, habe ich schließlich die Straße überquert und bin als in Berlin lebender Europäer niederrheinischer Herkunft auf dem Trottoir gemächlich Richtung Osten spaziert, um in der berühmten Karl-Marx-Buchhandlung Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ zu kaufen, das leider nicht vorrätig war.