Kairoer Aufklärung

Nach Ägypten zu reisen, war mein Traum, seit ich mich mit fünfzehn in Nofretete verliebt hatte. Damals erschien mir die Kunst der Pharaonen als das Schönste, was je von Menschenhand gemacht worden war. In der innigen Beziehung zwischen dem alten Ägypten und mir spielte das moderne Staatswesen gleichen Namens allerdings keine Rolle. Dann bekam ich einen muslimischen Schwager aus dem real existierenden Ägypten, der mit Frau und Kindern zurück nach Kairo zog und uns einlud, sie dort zu besuchen. In der Wohnung sei genug Platz, er habe Freunde sowohl am Institut für Ägyptologie als auch in der Altertumsbehörde, die uns überall führen würden. Die Einladung klang so verlockend, daß man sie unmöglich ablehnen konnte, selbst wenn das Auswärtige Amt gerade vor Ägyptenreisen warnte.


Im Süden des Landes herrschten 1993 bürgerkriegsähnliche Zustände. Auch in Kairoer Cafés ließen Islamisten Sprengsätze detonieren, kamen Einheimische und Touristen bei Schießereien ums Leben. Von Deutschland aus betrachtet war das alles völlig irrational, doch es fügte sich in das Bild, das sich – Schwager hin, Schwager her – gespeist aus Geschichten, Nachrichten und gepflegten Vorurteilen in meinem Kopf seit Kindertagen vom Orientalen, Araber, vom Moslem als solchem zusammengesetzt hatte: Er war explosiv emotional, archaisch gewaltbereit und wahnhaft religiös. Da er in seinen endlosen Wüsten nichts zu tun hatte, außer dem Öl beim Sprudeln zuzuschauen, entführte er Flugzeuge, warf Bomben oder mißhandelte die eigenen Frauen und Kinder. All das begründete er mit Geboten seiner Steinzeitvariante des „lieben Gottes“, der hierzulande allmählich von der Bildfläche verschwand.


Ich war ein wenig aufgeregt, als ich die Egypt Air Maschine von Frankfurt nach Kairo bestieg, aber ich flog ja nicht als Tourist, sondern besuchte Verwandte, und mein Schwager hatte am Telephon versichert, daß keinerlei Gefahr bestehe, wenn man bestimmte Viertel meide – dazu wurde einem auch in New York geraten.

Der Pilot sagte „Bismillah-i Rahman-i-Rahim“ bevor er Schub gab, es bedeutete – wie ich von meinem Schwager wußte – „Im Namen Gottes des Barmherzigen, des Allerbarmers“, und ich überlegte, was ich denken würde, wenn ein Lufthansakapitän mit „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ starten würde?


Als ich in Kairo auf die Gangway hinaus trat, war es bereits dunkel. Mit Hitze vermengter Staub schlug mir ins Gesicht und die Luft schmeckte nach Sand. Mein Schwager holte uns ab.


Natürlich war die Stadt riesig, ein Moloch, der Verkehr reines Chaos, Hupen, Ausweichen, beleidigende Finger, Geschrei, dazwischen Pferdefuhrwerke und Eselskarren mit Knoblauchbergen oder aufgetürmten Hühnerkäfigen, an jeder Kreuzung schwerbewaffnete Polizisten, Militär. Über all das wachte von gigantischen Plakaten, Transparenten, Wandbildern, Präsident Mubarak, ernst, lächelnd, winkend oder salutierend, als Staatsmann, Landesvater, General. Irgendwann setzte das erste „Allahu akbar“ aus dem Lautsprecher eines nahegelegenen Minaretts ein, dem unendliche Echos folgten, und zusammen mit dem Hupkonzert und dem dicklichen Fahrtwind ließ es einen Schrecken aus der Brust in mein Hirn steigen: „Hier bin ich vollkommen fremd“.


Gegen halb elf trafen wir in der Wohnung ein, wo Großmutter, Brüder, Tanten, Enkel, Nichten, Neffen und Nachbarn warteten, um uns zu begrüßen. Unmengen Süßigkeiten stapelten sich auf den Tischen, es gab Tee, schwarzen arabischen Mokka und Limonade, die mein Schwager aus Limetten und Eis selbst aufmixte. Wir überreichten und erhielten Geschenke, es wurde Deutsch, Englisch, Arabisch gesprochen, und wenn die Wörter fehlten, machten wir uns mit Gesten oder Grimassen verständlich. Kinder jeden Alters tobten durch die Wohnung, lachten, weinten, wurden getröstet, schliefen irgendwo ein. Doch so leicht ließ sich mein kritischer Verstand nicht einwickeln: Einige der Frauen trugen Kopftuch, und natürlich nahm ich an, daß sie unterdrückt waren, auch wenn die dazugehörigen Männer auf den ersten Blick freundlich wirkten, eher schüchtern der eine, ziemlich lustig der andere. Die Frauen selbst traten auf, als strotzten sie vor Selbstbewußtsein, was gespielt sein mußte, da sie doch quasi keine Rechte hatten.


Touristisch gesehen war Kairo im Frühjahr 1993 so gut wie tot. Keine Warteschlangen, weder an den Pyramiden, noch beim ägyptischen Museum. Kein Gedränge um die goldene Maske des Tutanchamun, überhaupt nirgends Gedränge. Selbst auf der Zitadelle, von wo aus man über die Stadt sehen konnte, bis sie weit vor dem Horizont in einer Mischung aus Wüstenstaub und Smog verschwamm, herrschte gähnende Leere.


Meine neuen Verwandten und ihre Freunde lebten nicht direkt vom Tourismus, sondern arbeiteten in Schulen, Zeitungsredaktionen, an der Universität, als Juristen oder Geschäftsleute. Sie gehörten der Mittelschicht an, die zwischen Vetternwirtschaft und Krise zerrieben wurde. Eine Lehrerin verdiente umgerechnet siebzig Mark, ein Professor dreihundert, das Kilo Rindfleisch kostete fast zwanzig.

Ich weiß nicht, was dazu geführt hat, daß ich aller wirklichen oder behaupteten Gefahr zum Trotz bereits nach wenigen Tagen völliges Vertrauen in die Stadt und ihre Bewohner hatte. Ich ließ mich durch die Straßen treiben, schaute mir an, was am Weg lag, trödelte umher, trank mit wildfremden Leuten Tee. Darüber gerieten mir die pharaonischen Altertümer fast ganz aus dem Blick, statt dessen zog es mich immer häufiger in die alten Moscheen. Anfangs deshalb, weil sie einen Gebäudetyp darstellten, den ich nicht kannte, mit einem Raumgefühl, das neu für mich war. In ihnen kam ein gänzlich anderer Geist zum Ausdruck als in Basiliken und Kathedralen. Sobald ich einen der Höfe betrat, umfing mich eine Atmosphäre, die von Weite und Offenheit erzählte. Ich saß in leicht gebauten, lichtdurchfluteten Säulenhallen, folgte den Linien in Stein gemeißelter Koran-Verse, wurde still, sann über Gott und die Welt nach, mit offenem Ausgang und vor allem verwundert, denn die Räume, die eine Religion für sich errichtete, mußten doch ihr Wesen repräsentieren. Wenn das islamische Sakralarchitektur war, stimmte irgend etwas nicht – unvorstellbar, daß die Glaubenshüter einer mittelalterlichen Gesetzesreligion so hatten bauen lassen. Es fiel mir jedes Mal schwerer, aufzustehen und hinaus zu gehen, denn die umherschweifenden Gedanken wollten kein Ende finden.


Jeden zweiten Abend waren wir bei Verwandten, Freunden oder Nachbarn eingeladen, und wenn wir nirgends eingeladen waren, kamen Leute zu uns. Bis Mitternacht konnte Besuch an der Tür klingeln, ein Kuchenpaket unterm Arm, es wurde Tee aufgesetzt, Kaffee gekocht und geredet. Am Anfang stand meist die Frage, wie uns Ägypten gefalle, doch schon nach kurzer Zeit landeten alle Gespräche bei Politik und Religion. Es ging es um Recht und Unrecht der islamistischen Bewegungen, das Verhältnis des Westens zur arabischen Welt, um Israelis und Palästinenser, Vorurteile und Verschwörungstheorien. Der Golfkrieg des älteren Busch war gerade zu Ende gegangen, Saddam Husseins Armee, „die viertgrößte Streitmacht der Welt“, war sang- und klanglos dem Erdboden gleichgemacht worden, und auch wenn hier niemand irgend eine Sympathie für Saddam hatte, stellten sich Entstehung, Gründe und Folgen des Krieges aus arabischer Perspektive anders dar, als von Deutschland aus. Nach kurzer Zeit merkte ich, daß „die Muslime“ keineswegs einen monolithischen von Männern dominierten Block bildeten, im Gegenteil – es gab immer mindestens so viele Meinungen wie Leute am Tisch saßen, originelle, klischeehafte, kluge und bescheuerte. Nicht selten dachte ich, so habe ich das noch nie betrachtet, wahrscheinlich stimme ich nicht damit überein, aber man kann es so sehen, ohne verbohrt, verrückt oder fanatisch zu sein. Ich diskutierte mit Frauen mit und ohne Kopftuch, die studiert hatten und trotz kleiner Kinder arbeiteten, über die Rolle der Frau im Islam, mußte mir vorwerfen lassen, daß es die typische koloniale Arroganz der Europäer sei, wenn ich unterstellte, sie würden die unbewußten Gründe ihrer Gründe, sich so oder so zu verhalten oder zu kleiden, nicht kennen. Anstatt mir dankbar zu sein, daß ich ihnen die Augen für ihre Probleme öffnete, lachten sie mich aus. Je differenzierter die Diskussionen gerieten, desto erschrockener wurde mir bewußt, daß ich keineswegs eine objektive, durch Fakten untermauerte Position hatte, die sich im Austausch der Argumente automatisch als überlegen erweisen würde. Sobald es um Fragen der Religion ging, mußte ich einräumen, daß meine Gesprächspartner sich meist wesentlich besser im Christentum auskannten, als ich im Islam, und daß das, was sie mir über ihre Religion erzählten, wenig bis nichts mit dem zu tun hatte, was mir von der heimischen Presse als Information verkauft worden war. In einem Punkt allerdings lagen die Ägypter allesamt falsch: Sie gingen selbstredend davon aus, daß der Westen christlich sei. Wenn ich daraufhin erklärte, daß ein beträchtlicher Teil der Europäer keineswegs dem Christentum angehöre, schauten sie mich an, als würde ich behaupten, in meinem Land kämen die Leute ohne Nasen auf die Welt. Es folgte ein kurzes Lachen, dann Blicke, denen ich entnahm, daß man mich bei allem Respekt für einen Meinungsexoten hielt. Erst wenn ich mehrfach versichert hatte, daß es in Europa viele Menschen gebe, die überhaupt nicht an Gott glaubten, kam nach Schweigen, Kopfschütteln, immer noch mit zweifelndem Unterton: „Und was glauben diese Leute dann?“


Ich war zunehmend verwirrt. In mir keimte der ungeheuerliche Verdacht, daß das neuzeitlich abendländische Denken mit seiner Art Meinungsvielfalt nur ein begrenzter Ausschnitt aus einem weit größeren Spektrum der Weltanschauungsmöglichkeiten sein könnte. Wenn nicht einmal alle halbwegs plausiblen Einschätzungen tagespolitischer Ereignisse ihren Niederschlag in den Kommentaren von „New York Times“ bis „Neues Deutschland“ fanden, war es ziemlich wahrscheinlich, daß sich auch fundamental andere und trotzdem sinnvolle Perspektiven als die des nachchristlichen Europa für die Positionsbestimmung des Menschen in Raum, Zeit und Ewigkeit einnehmen ließen.


Eines Abends saß ich in einem Café am Nil und sah zwei kleinen Jungen zu, die ganz allein in einem winzigen Holzboot trieben und zu fischen versuchten. Die Sonne ging unter, das Licht wurde ockerfarben, als sich plötzlich ein Riß aus Ungewißheiten öffnete. Ich versuchte Entweder-und zu denken, es funktionierte nicht, wäre aber die einzige Möglichkeit gewesen, ihn zu überbrücken. Die Kinder machten ziemlich viel Unsinn in ihrem Boot, so daß ich fürchtete, es würde kentern, mitten in dem riesigen blauen Fluß. Dann gingen Lampionketten an, ein älterer Herr im Frack setzte sich an eine Hammond-Orgel und spielte „Yesterday“. Der Riß hat sich nicht wieder geschlossen.