Vorbilder

Literatur besteht, wie der Name schon sagt, aus Buchstaben, doch ihr Beweggrund ist nicht das Vergnügen abstrakte Zeichen in Ton zu ritzen, auf Papyrus zu pinseln oder in eine Maschine zu hämmern. Lange vor der Literatur gab es Geschichten, kollektiv überlieferte und persönlich erlebte, wobei die überlieferten die Erzählmuster für die persönlichen prägten, ihrerseits aber als Destillate vergleichbarer Einzelerfahrungen entstanden waren und sich im Zuge wandelnder Lebensumstände veränderten. Bis heute lernt jedes Kind, dem Geschichten erzählt werden, aus ihnen, wie die Welt, in die es hineingeboren wurde, von seinem Sozialverband strukturiert wird, welche Verhaltensweisen als gut oder böse gelten, geachtet oder geächtet sind. Zugleich geben die Geschichten ihm erste Instrumente zur kritischen Betrachtung seines vertrauten Umfelds an die Hand, da sie immer auch Räume und Möglichkeiten erschließen, die von der unmittelbaren Umgebung verschwiegen werden. Insbesondere die kanonisierten Geschichten – seien sie religiös-mythologischer, historischer oder literarischer Art – unterwerfen Werte, Aufbau und Verhaltensregeln der konkreten Lebenswelt externen Maßstäben und ermöglichen so erste Schritte in die Eigenständigkeit.

 

Mit dem Zerbrechen der Symbiose zwischen Kind und Eltern, entschiedener noch während der pubertären Selbstvergewisserungen entwickelt sich daraus das Verlangen nach der eigenen Geschichte bzw. den eigenen Geschichten: Eigen erstens im Hinblick auf Erfahrungshorizonte, zu denen einer aufbrechen will, um dann – zweitens – auf seine unverwechselbare Art und Weise davon erzählen zu können. Während dieser Zeit eröffnen Geschichten Fluchtkorridore aus der familiären, regionalen oder weltanschaulichen Enge, die häufig in die Nachahmung bewunderter Lebens- oder Erzählformen münden. Allmählich schleicht sich dann jedoch ein Gefühl des Unbehagens ein, weil weder die geliehene Biographie noch das literarische Imitat zum wirklich Eigenen werden können.

 

Die Frage nach den literarischen Vorbildern ist deshalb zugleich immer die Frage nach dem Beginn des Schreibens. Je weiter man mit der Erkundung und Beschreibung der eigenen Welt vorankommt, desto mehr verschwinden die Vorbilder, beziehungsweise sie werden zu Wegbegleitern oder Kollegen, für die man großen Respekt, ja manchmal sogar Ehrfurcht empfindet, ohne deswegen in ihre Fußstapfen treten zu wollen.


Um Vorbilder zu benennen, muß ich also zu den ersten Anfängen zurück.

 

Seit ich lesen kann, bin ich büchersüchtig und seit ich schreiben kann, habe ich versucht, Geschichten zu schreiben. Vielleicht ist das ganz normal, genauso normal, wie die meisten Kinder irgendwann malen oder Räuber und Gendarm spielen, ohne daß es Auswirkungen auf ihr künftiges Berufsleben hätte. Wäre ich Architekt geworden, würde ich jetzt vielleicht meine monumentalen Legobauten anführen; als Lehrer, die Nachmittage vor der Kindertafel.

 

Meine Lieblingsschriftsteller hießen damals Ottfried Preussler, Enid Blyton und Erich Kästner, meine Helden Huckleberry Finn, Pipi Langstrumpf und die rote Zora. Doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, etwas Ähnliches zu versuchen. Die Bücher waren spannend, das ja, aber das Leben ihrer Autoren stellte ich mir ziemlich uninteressant vor. Ich wußte, daß Hotzenplotz, Georgina alias George, Emil und all die anderen lediglich Erfindungen waren, daß Miss Blyton keinen einzigen Verbrecher überführt und Mister Twain nie auf einer Insel im Missisipi gehaust hatte. Sie saßen im Gegenteil den ganzen Tag rauchend am Schreibtisch und abends langweilten sie sich auf irgendwelchen Parties.

 

Ich wollte andere Geschichten schreiben, weil ich so nicht leben wollte, beziehungsweise anders leben, um andere Geschichten schreiben zu können. Wenn Tante Dora zum Beispiel vom Krieg erzählte, fand ich das spannender als jedes Buch. Bücher waren im Grunde ein wunderbar schlechter Ersatz für Menschen, die in fernen Ländern oder früheren Zeiten wirkliche Abenteuer bestanden hatten. Ich stellte mir vor, daß diese Leute auf ihrer nie endenden Wanderung manchmal Station in unserer Gegend machten und die halbe Nacht bei Speck und Schnaps erzählten, was ihnen in Afrika oder im Himalalya widerfahren war. Am nächsten Morgen zogen sie weiter.

 

In meiner Kindheit gab es diese echten Erzähler allerdings kaum noch. Fahrende Sänger, Wanderprediger, Scherenschleifer, Kesselflicker und Bärenführer waren nahezu ausgestorben. Immerhin bereiste einer unserer Nachbarn als Landmaschinenvertreter regelmäßig die DDR und wußte Sonderbares zu berichten. Und für drei Sommer kamen zwei junge Missionare in unser Dorf, die sonst bei den Indianern am Amazonas lebten, ihnen die Frohe Botschaft verkündeten und den Kindern dort Lesen und Schreiben beibrachten. Die wußten, wie man mit Blasrohren jagt, Kanus baut und dämonischen Zauber abwehrt. Sie hatten Brüllaffen, Tapire und Piranhas gesehen. Eine Zeitlang wollte ich deshalb auch Missionar werden.

 

Doch meine einzigen echten Vorbilder – im Leben wie im Schreiben – waren Heinz Sielmann und Professor Grizmek. Fast zehn Jahre lang hing Sielmanns Portrait über meinem Bett. Ich habe beide unendlich bewundert, beneidet und im Rahmen meiner Möglichkeiten versucht, ihnen nachzufolgen. Aber meine Möglichkeiten waren begrenzt.

 

Während sie sich durch afrikanische Savannen, brasilianische Urwälder oder australische Wüsten schlugen, saß ich in der Schule oder spielte Fußball. Monatelang sah und hörte ich nichts von ihnen. Erst wenn sie genug erlebt hatten, kehrten sie für einige Wochen zurück, ein halbes Dutzend Filme oder ein neues Buch im Gepäck. Sie hatten dann bahnbrechende Erkenntnisse über die Jungenaufzucht der Harpyien oder die Revierbildung des großen Ameisenbärs gewonnen, dabei tausend Widrigkeiten überstanden und Gefahren überlebt: wütende Elephanten, tödliche Klapperschlangen, kopfjagende Papuas. Der wichtigste und zugleich riskanteste Teil ihrer Arbeit  war jedoch der Kampf gegen Wilderer. Der gemeine Wilderer war zwar meist nur ein armer Schlucker, der mit ein paar Tigerfellen oder Krokodilhäuten seine Frau und zehn Kinder durchzubringen versuchte, nichtsdestoweniger hatte er keine Hemmungen, jeden, der ihm in die Quere kam, mit seinem Schnellfeuergewehr niederzumähen. Trotzdem gelang es mit Grizmeks oder Sielmanns Hilfe meistens, große Mengen Drahtschlingen, Fallgruben und Fangeisen unschädlich zu machen, eine Bande auf frischer Tat zu ertappen, gefangen zu nehmen und ins Gefängnis zu schaffen.

 

Ebenso bösartig wie die Wilderer waren skrupellose Geschäftemacher, die mitten in den unberührtesten Landschaften Kautschukplantagen anlegten, Bodenschätze ausbeuteten oder Kraftwerke bauen wollten. Oft sprach Professor Grizmek dann persönlich mit dem Präsidenten oder König des Landes und machte ihm klar, daß sein Paradies gemeinsamer Besitz der gesamten Menschheit sei, den er nicht einfach vernichten könne.

 

So wollte ich auch leben, um solche Geschichten erzählen zu können. Daran änderte ich auch nichts, als ich erfuhr, daß Grizmeks Sohn während der Dreharbeiten zu „Serengeti darf nicht sterben“ bei einem Flugzeugabsturz umgekommen war. Es mußte ja nicht gleich Afrika oder Südamerika sein, da konnte ich später immer noch hinfahren: Sielmann berichtete zum Beispiel, daß im bayrischen Wald – wo wir unsere Weihnachtsferien verbrachten – die letzten Wanderfalkenhorste geplündert wurden, damit arabische Scheichs die Tiere zur Jagd abrichten konnten. Und fast vor unserer Haustür kippten gewissenlose Bauern ihre alten Treckerreifen, Badezimmerschränke und Waschmaschinen in das einzige Stück Auwald der Gegend. Dort gab es immerhin Habichte, Graureiher, Rehe und Füchse.

 

Zu meinem achten Geburtstag bekam ich den ersten Photoapparat und verbrachte fortan jede freie Minute auf Expeditionen. Allerdings hatten die meisten Tiere nicht die geringste Lust, sich von mir beobachten zu lassen. Sobald ich meinen Posten auf dem Hochstand bezogen hatte, zeigte sich nicht einmal mehr ein Spatz. Mir fehlte alles, was man als Forscher brauchte: Landrover, Tarnkleidung und -zelt, Nachtsichtgerät, Halsbandsender, und vor allem natürlich das Betäubungsgewehr. Meine Kamera reichte allenfalls für Zooelephanten, schon die halbwilden Stockenten im Stadtpark erschienen auf den Abzügen so winzig, daß man die Erpel kaum von den Enten unterscheiden konnte. Und kein Bauer ließ sich beim heimlichen Schuttabladen erwischen. Meine Aufzeichnungen wurden zusehends Bearbeitungen dessen, was ich in Tierlexika und Bestimmungbüchern gelesen hatte.

 

Weil ich nicht zwanzig Jahre warten wollte, bis etwas Aufregendes passierte, ging ich dazu über, mir mein abenteuerliches Leben auszudenken.

 

Meine erste richtige Expedition führte nach Kanada. Etwa zwanzig Grizzlies mußten gefangen und umgesiedelt werden, weil in ihrem Gebiet große Ölvorkommen entdeckt worden waren, und die Konzernchefs damit gedroht hatten, alle Bären abzuschießen. Kanada war insofern günstig, als weder Grizmek noch Sielmann bis dato dort gedreht hatten. Eine Woche lang studierte ich das Land im Atlas, bis ich ungefähr wußte, wo wir hinfliegen würden.

 

„Von Fort Chipewyan aus fuhren wir mit unserem Amphibienfahrzeug den Athabasca hinauf, weil selbst die Geländewagen in den weiten Sümpfen steckengeblieben wären. Zu unserer Rechten zogen die Birch Mountains vorbei, ein majestätischer Anblick. Nachts klang das schreckliche Heulen der Wölfe zu unserem Lager herunter.“

 

Allein die Anreise dauerte zehn Tage, während derer wir dauernd große Schwierigkeiten überwanden. Schließlich erreichten wir die vereinbarte Stelle etwa fünf Kilometer östlich des Flusses, wo unsere einheimischen Helfer das Basislager aufgeschlagen hatten.

 

„John, mein indianischer Freund, kannte das Gebiet wie seine Westentasche und wußte, wo die Bären Lachse fingen.“ (Grizmek und Sielmann hatten immer Freunde unter den Eingeborenen.)  „Er  war schon als Junge mit seinem Großvater durch die endlosen Wälder gestreift und gehörte zum Stamm der ...“ – der mir zum ersten Mal das Hauptproblem des Schreiballtags vor Augen führte: Wie bekomme ich Informationen über die Indianer dieser Gegend und was mache ich, wenn ich nichts finde, bzw. wenn das, was ich gefunden habe, nicht für meine Geschichte taugt?

 

Nachdem ich sämtliche Nachschlagewerke unter allen möglichen Stichwörtern ergebnislos durchforstet hatte, blieb mir keine andere Wahl, als die Chomatané – was übersetzt Krieger des Berglöwen hieß – zu erfinden.

 

Von da an verbrachte ich immer weniger Zeit mit Feldstudien, saß stattdessen immer öfter über Büchern bzw. am Schreibtisch: Das Wenige, das ich wirklich beobachtet hatte, ließ sich um das Viele, das ich gerne beobachtet hätte, ergänzen, und die Ergänzungen gewannen im Kontext der nachprüfbaren Fakten eine ganz neue Glaubwürdigkeit.

 

Da John und ich unsere Arbeit in Kanada hervorragend erledigt hatten, wurden wir in der Folge ständig angefordert, wenn irgendwo Raubtiere gefährdet waren. Mit dem Atlas stand uns praktisch die ganze Welt offen. In Kenia lernten wir schließlich auch Professor Grizmek persönlich kennen und halfen ihm, einige Geparden für den Frankfurter Zoo zu fangen.

 

Mit fünfzehn hängte ich das völlig vergilbte Portrait von Heinz Sielmann über meinem Bett ab.

 

Große Städte, die es in unserer Gegend nicht gab, in denen ich aber gerne gelebt hätte, waren inzwischen zum Schauplatz meiner Geschichten geworden. Statt wilder Tiere spielten jetzt zerrissene Künstler und atemberaubend schöne Frauen die Hauptrollen. Alles endete immer tragisch. Ich bekam die alte Schreibmaschine meiner Mutter als Dauerleihgabe und fing an zu rauchen. Dann erhielt ich die erste Einladung zu einer richtigen Party. Sie war weit weniger langweilig, als ich befürchtet hatte. Einige Monate später bildete sie den Hintergrund für meine erste Kußszene. Sie ist allerdings verloren gegangen, genau, wie die Berichte meiner Abenteuerreisen, so daß es nicht einmal dafür, daß ich sie erfunden habe, Beweise gibt.